Auf Innovationen liegt die Hoffnung der Entwicklungspolitik
Auf Innovationen liegt die Hoffnung der Entwicklungspolitik. Aber was ist eigentlich eine Innovation, die Afrika wirklich weiterbringt? Mit Unterstützung der SEWOH-Partner hat sich Journalist Jan Grossarth kritisch mit der Forderung nach Innovation auseinandergesetzt.
Ist Innovation ein Heilmittel? Ein nichtssagendes Füllwort? Sogar problembehaftet? Und: Inwiefern? Im post-kolonialen kritischen Blick auf die Vergangenheit erscheint die „Innovationsgeschichte“ Afrikas jedenfalls zweischneidig. Der Historiker Clapperton Chakanetsa Mavhunga, der am amerikanischen MIT lehrt, beklagt ein Scheitern und sogar eine überwiegend zerstörerische Wirkung „westlicher“ Technik- und Wissensexporte nach Afrika. In seinen Werken über die Innovationen in Afrika erscheint das „kapitalistische Entrepreneurship“ als „Imperialismus“ in veränderter Form und dessen Natur geradezu als „parasitär“. Ein problematischer Innovationsbegriff sei vor allem aus Europa nach Afrika transferiert worden. Einer nämlich, der auf technische Aspekte und die industrielle Skalierung und kommerzielle Nutzung eng führe.
Und Mavhunga fragt, beinahe verzweifelt, bezogen auf innovations-basierte Entwicklungszusammenarbeit:
Kann Afrika diesen Modellen unter seinen besonderen Bedingungen folgen? Wenn 80 Prozent des Budgets von Ländern wie Simbabwe in die Gehälter des öffentlichen Dienstes fließen? Wenn der größere Anteil des afrikanischen Haushalts auf die Zahlungsbilanzhilfe des IWF und der Weltbank angewiesen ist? Wenn Länder also über magere Mittel verfügen, um in Forschung und Entwicklung zu investieren und sie trotzdem zum Kernstück ihrer Innovations-Politik zu machen? Wenn der Westen Afrika seit der Sklaverei als bloße Rohstoffquelle (einschließlich billiger Arbeitskräfte) für seine Entwicklung, einen Markt für fertige Waren und eine Dumping-Deponie für seine stillgelegten Produkte verwendet hat? Und warum genau vertraut Afrika der Beratung von denselben Experten, die Innovationssysteme entwickelt haben, die den Kontinent zu einem Empfänger westlich produzierter Forschung und Entwicklung und einer Quelle unverarbeiteter natürlicher Ressourcen und landwirtschaftlicher Produkte für die Industrie im Westen und Osten degradieren?“
In der postkolonialen kritischen Lesart erscheint das „westliche“ Wirken in Afrika als Sündenfall. Zum Arsenal der Unterdrückung gehörten, liest man bei Mavhunga, Phrasen und Konzepte wie die der „Start-ups“ oder der „Wissensgesellschaft“, die den industriellen Inwertsetzungs-Aspekt der Innovation überbetonen. So dekonstruiert er den Innovationsbegriff und diskutiert ihn vor allem vor dem Hintergrund von Machtaspekten und historischen Unterlegenheitserfahrungen: Der Autor erinnert an das „westliche“ Afrikabild von Finsternis und Geschichtslosigkeit, das von Joseph Conrad schon vor mehr als einhundert Jahren popularisiert wurde. Der „westliche“ Blick auf afrikanische Innovationen sei der des dilettantischen „Herumbastelns“ (tinkering): „Ein schreckliches Wort.“ Afrikas Jugend bräuchte eine Perspektive, die sie selbst zum Akteur der Innovation macht, zu kreativen Entwicklern, und hier seien die angeblichen „rigiden“ westlichen Konzepte mehr Steine im Weg als hilfreich. Aber was bedeutet das für die Praxis?
Soll man nicht mehr von Innovation sprechen? Doch, aber mit Herz und einer weiteren Vernunft, als einer Ingenieursvernunft.
Jenseits der Details und Abwägungen scheint es aber angebracht, auch grundsätzlich über politisch und wirtschaftlich geläufige Innovationsbegriffe nachzudenken.
Erstens: Ist technischer Fortschritt immer Innovation? Nein. Das einfach nur Neue ist selten innovativ. So ist es mit der Technik. So ist es aber auch mit dem Lebendigen. Ein neues Kind zum Beispiel ist keine Innovation (auch, wenn jeder der acht Milliarden Menschen auf der Erde ein Unikat ist). Eine neue Maispflanze ist nicht unbedingt innovativ (selbst dann nicht, wenn sie aus zwei unterschiedlichen Elternsorten gekreuzt wurde und neue „Nutzwerte“ hat, wie Größe und Stärkegehalte). In den Vereinigten Staaten sind die Maiserträge zwar stark gestiegen – aber die Anzahl der Hungernden dort ist deswegen nicht zurückgegangen. Solange das so bleibt, dürfte die Maiszucht – trotz ihrer historischen Beiträge – bezogen auf das gegenwärtige Hungerproblem der USA eher nicht als Innovation bezeichnet werden.
Was ist das also dann: Innovation? Eine technische Neuerung ist innovativ, wenn sie bedürfnisgerecht ist.Das ist die entscheidende ethische Weiterung. Auch in den Wissenschaften und Anwendungsdisziplinen jener „westlichen Welt“, die Clapperton Chakanetsa Mavhunga als seit Jahrhunderten heillos einseitig auf das Messbare und Handelbare fixiert karikiert, sind neuere Ansätze populär, die den humanisierenden Aspekt des Fortschritts betonen. Sie werden als „soziale Innovationen“ oder „design thinking“ diskutiert. Soziale Innovationen haben eine inhaltliche Dimension, Prozess- oder Beziehungs-Dimension, eine Empowerment-Dimension (Partizipation, Bildung, Ressourcenzugang).
Aber so klar war das lange nicht. Das Wort Innovation hat eine lange und aufschlussreiche Geschichte. Die Sprachwissenschaftlerin Susanna Weber hat die Begriffsgeschichte der Innovation in ihrer 2018 erschienenen Berliner Dissertation erforscht und mitleidslos seziert. Sie sieht darin einen „Stopfgansbegriff“, ein „Fahnenwort“ oder „Zaubertrank“. Die Originalitätsbehauptungen würden selten eingelöst. Das Wort meine im politisch-ministeriellen Sprachgebrauch oft nicht viel mehr als eine Beschleunigung des Neuen. Und als solches sei es, so Susanna Weber, „maßgebliche Bezugsgröße für Regierungshandeln“. Ein vergleichbares Musterbeispiel ist das oft substanzlose Gerede von Digitalisierung. In dem Befund dahinterliegender Geistlosigkeit teilt sie die Sichtweise Mavhungas.
Und auch mehr: Dahinter könnten sich sogar technokratische Zwangsvorstellungen verbergen: „Vor allem im politischen und ökonomischen Sprachgebrauch haben sich Redeweisen mit dem Element Innovation zu sachzwangartigen Mustern verfestigt, die entgegen dem implizit oder explizit behaupteten Anspruch Kommunikation eher abschließen.“ Interessant ist der historische Wandel von überwiegend negativer zu positiver Intention des Wortgebrauchs. Von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Neuzeit sei das Wort fast ausschließlich negativ konnotiert gewesen: im Sinne von Umsturz, Umwälzung, Ketzerei. Von der differenzierten ökonomisch-soziologischen Analyse Joseph Schumpeters (1911) und seinem Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ über banalisierende Ideale vom „entrepreneurship“ schwingt in dem Begriff eine zunehmend einseitige Fokussierung auf ökonomische Inwertsetzung mit. Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen bringt seine Verwendung als Füllwort voraussetzungsarm Reputationsgewinne.
Innovationen sind also bedürfnisgerechte Neuerungen. Fragt sich nur noch: Was genau ist ein Bedürfnis?
Hier kommt die Ethik ins Spiel. Ein Bedürfnis kann materiell sein oder immateriell, aber nicht bösartig begründet. Könnte man ernsthaft sagen: „Es war mir ein Bedürfnis, meinen Mann zu töten?“ Oder selbst: „Es ist mir ein Bedürfnis, reich zu werden.“ Nicht ernsthaft. Elementare Werte müssten berührt sein, vom Recht auf Leben in Würde bis zur kreativen Entfaltung. Das gilt für sämtliche UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG). Der ethische Anker ist das praktische Ideal einer Lebensführung in Freiheit und Verantwortung. „Der Zugang zur Ethik über die menschliche Lebensführung macht also den praktischen Bezugspunkt namhaft, der auf den oft verwirrenden Pfaden von Ethikdebatten leicht aus dem Auge verloren werden kann“, schrieb der Münchner Ethiker und Theologe Trutz Rendtorff.
Innovationen bringen nicht ausschließlich Fortschritt zum Guten. Sie wirken ambivalent: Fast jeder Fortschritt hat seinen Preis. Die Erfindung des Automobils brachte mehr Verkehrstote und Umweltverschmutzung, aber auch neue Erlebnisse durch Reisen. Es gibt dank der Krankenwagen schnellere Hilfe für Kranke und Verletzte (auch die Verletzten durch Autounfälle). Eine binäre Codierung von „bedürfnisgerecht“ oder „bedürfnisungerecht“ ist unmöglich. Im Großen und Ganzen ist also eine Abwägung von Bedürfnissen gefragt. Diese Einsicht war der Grund für den Boom der Ethik als Begleitwissenschaft der Technikwissenschaften ab den 1980er-Jahren. Sie ist heute wichtiger denn je.
Der auch von Clapperton Chakanetsa Mavhunga bemängelte, verkürzte Begriff von Innovation, der auf technische Mittel begrenzt ist oder den Nutzen einer (machthabenden) Partei überbetont, liegt dem Scheitern vieler früherer Entwicklungsprojekte zugrunde: Denn über Jahrzehnte basierte die Idee der „westlichen“ Entwicklungshilfe vor allem auf dem Export von Techniken in die südliche Welt. Sei es Saatgut, seien es Maschinen oder Institutionen – „demokratische“, „sozialistische“: Jede Saat kann nur aufgehen, wenn der Boden dafür fruchtbar ist. Ganz gleich, ob es um Traktoren geht, um Gentechniken, um moderne Regierungsstrukturen oder neue Verkehrsinfrastruktur: Jede technische oder institutionelle Neuerung ist nur „Innovation“, wo sie zur Lösung lokaler Probleme beiträgt. Sonst endet all dies in rostigen Maschinenfriedhöfen, hohlen und aufgeblasenen Verwaltungsstrukturen, maroden Straßen, die einmal gebaut wurden, aber für deren Erhalt die finanziellen und fiskalpolitischen Grundlagen fehlen. Afrika ist voller Beispiele: Ruinen eines vergangenen Innovation-Strebertums.
Da sind viele heute wohl klüger. In einem Abschluss-Seminar der internationalen SEWOH-Projektteilnehmer war das beliebteste Resümee: „Der Kontext ist der König“. Mit anderen Worten: Die Frage nach den Bedürfnissen ist situativ und lokal von sehr großer Bedeutung und konkret greifbar. Entwicklungszusammenarbeit spielt sich vor Ort ab. Sie darf aus der Nähe blicken.
Eine Erntemaschine braucht nur, wer sie fahren und reparieren kann. Wer eine Tankstelle hat und eine Straße nutzen kann. Wer mit fernen Städten handelt, in denen es Kaufkraft gibt und in denen regionale Produkte nachgefragt sind. Und alles steht in einem großen Sinnzusammenhang: die Verbesserung der Lebensqualität vor Ort. Zum Beispiel Sambia: Ob genveränderter, mit Vitamin angereicherter Mais in diesem Sinnzusammenhang steht, ist dort, wie für viele andere Staaten, nicht eindeutig. Manche vor Ort sagen ja, andere – lokale Nichtregierungsorganisationen – sagen, Karottenanbau und eine Fabrik für Karottenkonserven täten es auch und hätten sogar mehr Vorteile.
Die ethische Dimension der Innovation bedeutet auch, dass Ingenieure oder Konzernchefs letztlich nicht allein entscheiden können, ob ihre Neuerfindungen Innovationen sind. Sie sind befangen. Dafür braucht es Gespräche und Reflexion, auch von Laien. Mit Raum für Skepsis – trotz der globalen Herausforderungen auch bezogen auf die Welternährung. Der Philosoph Hans Jonas hielt angesichts des Tempos der Technikentwicklungen sogar eine „Ethik der Furcht“ für wünschenswert – deren konsequentes Befolgen hingegen andererseits zu einem völligen zivilisatorischen Stillstand führen könnte. Risiken gehören aber immer zur Innovation. Und ein Risiko, definiert der deutsche Soziologe Ortwin Renn, ist die Gefährdung eines Wertes.
Auch die Geschichte des Begriffes ermöglicht eine Anknüpfung an dessen Lichtseiten. An die hat sich auch die Entwicklungspolitik in den vergangenen Jahren zunehmend erinnert: Schon in Schumpeters „schöpferisch“ ist die Qualität von Innovation angedeutet. Nicht weniger interessant ist ein Hinweis auf ein uraltes Lexikon von 1564, in dem das mittelhochdeutsche „Erneuwern“ als Synonym für Verbessern, Erfrischen, wieder in Form bringen oder „Wider in die alt form bringen“ aufgeführt ist.
Der Weg ist dann eben nicht mehr, dass „Experten“ von außen kommen und die angeblichen Segnungen der Zivilisation in die ärmsten Länder tragen, sondern dass die Experten Ideen und Erfahrungen von analog gelagerten Problemfällen beisteuern.
Sie helfen, dass stabile Wertschöpfungsketten entstehen, die Investoren anlocken. „Grow Africa“ in Südafrika ist zum Beispiel eine Initiative, die das schafft. Mehr als hundert Unternehmen hat Grow Africa in mehreren afrikanischen Staaten nach eigenen Angaben schon begleitet. Und zwar auf diese Weise, am Beispiel der Landwirtschaft: Für eine Region definieren Unternehmen und Stakeholder, welches die sogenannten „Cash Crops“ sind – Cassava etwa (Maniok), oder Mais, Erdnuss, Süßkartoffel. Darauf konzentriert sich die Initiative dann. Jetzt kommen alle relevanten Akteure an einen Tisch: Bauernorganisationen und Handel, Logistik und Verarbeitung, Exporteure, Politik, die sogenannte Zivilgesellschaft. Von dem „Feld bis zum Teller“ entstehen so Produkte, die höhere Wertschöpfung versprechen, und damit auch auskömmliche Einkommen für Bauern.
Dazu holt die Initiative Investoren aus dem In- und Ausland in die Kette. Damit diese auch wirklich an das Gelingen des Vorhabens glauben, und sich die einzelnen Mitglieder der Wertschöpfungskette an die getroffenen Absprachen halten, benennt der Kreis einen „Chief Investment Officer“. Der oder die wacht über die Einhaltung der Versprechen und berichtet den Investoren. Auf ähnliche Weise fördert die GIZ „good governance“ junger Unternehmen – zum Beispiel im Rahmen ihrer Initiative „Skalierung digitaler Agrarinnovationen durch Start-ups“. Das Konzept der Wertschöpfungsketten-Innovation ist auch für die deutschen „Grünen Innovationszentren“ zentral. Sechzehn von ihnen – vierzehn in Afrika, eines in Indien und eines in Vietnam – gründete das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
Aber können Bäuerinnen und Bauern auch vom Anbau und der Vermarktung leben? Das erfordert häufig Skalierung.Nicht jedes Geschäftsmodell ist beliebig skalierbar. Die „Cassanovas“ aus Nigeria, Chips aus Cassava, haben Markterfolge eben in Nigeria. Vielleicht gibt es auch gewisse Exportaussichten in begrenzte Käufermilieus des globalen Nordens. Aber schon die urbanen Konsumenten in den Nachbarländern Nigerias ziehen ihre jeweils einheimischen Produkte vor, Cassava aus Kamerun etwa.
Ein weiteres Beispiel für landwirtschaftliche Innovation ist die „Verbesserung“ des Reises. Die Grünen Innovationszentren und das internationale „Africa Rice Center“ haben neu angepasste Sorten für Westafrika unter die Landwirte gebracht. Neue Sorten, die unter Sammelbegriffen wie Faro, Nerica oder Orylux geführt werden, haben verbesserte Eigenschaften. Manche haben höhere Erträge, andere enthalten mehr Nährstoffe oder sind aromatisch – zum Beispiel die Sorten der Familie Orylux., die mit etwa 5,2 Tonnen je Hektar auch ertragreich sind und gut den Stickstoff aus dem Boden aufnehmen. 1.500 Landwirte in Burkina Faso steigerten so etwa in einer Projektphase 2016 ihre Ernten so stark, dass die Mehr-Ernten die Ernährung für 120.000 Menschen zusätzlich sicherte, sagt die GIZ.
In Indien wiederum trugen SEWOH-Partnerorganisationen dazu bei, dass Kleinbauern Stroh nicht einfach verbrennen, sondern es an Kraftwerke verkaufen und so die Wertschöpfung steigt. In lateinamerikanischen Staaten sparten Landwirte durch Projekte, die von der BASF unterstützt wurden, bis zu 90 Prozent an Wasser ein, indem sie Pflanzenschutzchemikalien mit Drohnen ausbringen statt mit Rückenspritzgeräten.
Was treibt Menschen zur „guter“ Innovation? Furcht? Not? Neugier? „Es ist die Leidenschaft“, sagt Dale Lewis.
Der Amerikaner ist aus Leidenschaft seit vielen Jahren in Sambia. Er kam jung, sah das Leiden und die Lebensfreude und blieb. Dort hat er in Kooperation mit, wie er sagt, Zehntausenden Bauern eine Wertschöpfung für lokale verarbeitete Lebensmittel geschaffen. Die Marke heißt „It`s Wild“, es gibt 17 Produkte, das Logo ist ein sambischer Elefant. Das ist eine Wertschöpfungsinnovation, die immer noch für viele Millionen Kleinbauern in weiter Ferne liegt: Aus der Ernte etwas machen, ein Produkt, eine Marke, die bleibt und Mehrwert bringt.
Ein bedeutender Innovationsbereich der Gegenwart und Zukunft ist der sozial-ökologische. Dazu zählt es, neue Produktqualitäten zu schaffen, zu kommunizieren und zu bepreisen. Ein Markt für die Kohlenstoff-Speicherung im Boden oder in Holz durch Land- und Forstwirtschaft entsteht, insofern diese durch Siegel, Kennzeichnung, Handelsstandards oder sogar (mit Förderung garniertes) Handelsrecht gefragt oder verpflichtend ist.
Auch im Rahmen des Europäischen Green Deals sind gravierende Änderungen der Spielregeln im internationalen Handel bezüglich der ökologischen Aspekte der Wertschöpfung angekündigt. Strafzölle an den Grenzen sind ein Instrument, das womöglich zum Einsatz kommen kann, eine staatlich verlangte sozial-ökologische Bilanzierung und auch Bepreisung („true cost accounting“) die andere. Auch diese wären wahre Innovationen. Im alten Sprach-Sinne könnte man auch diesbezüglich von Neuentdeckungen sprechen: von unternehmerischer Verantwortung, die im Rahmen intelligenterer Handelsregeln erst wieder ermöglicht wird, wo zuvor diffuse Ausbeutung von Menschen und Umwelt herrschte, die durch anonyme und verzweigte Lieferketten vernebelt war.
Am Beispiel der Handelsklimapolitik des Green Deal lässt sich allerdings auch sehen, dass auch „Governance-Innovationen“ ambivalent sind. Ein strengeres, sozial-ökologisches Handelsregime birgt auch Risiken für die Kleinbauern des „Globalen Südens“. Einerseits dürfte biologische oder bodenschonende Landwirtschaft für einige von ihnen lukrativer werden, wenn Ausgleichszahlungen oder neue Märkte entstehen. Andererseits könnte etwa die preisliche Berücksichtigung der langen, emissionsreichen Transportwege für landwirtschaftliche Produkte nach Europa zu einer Verteuerung der Produktion in Afrika oder Indien führen und damit zu Nachfragerückgängen. Dann müsste der Gesetzgeber aus sozial- und entwicklungspolitischen Gründen wieder „nachbessern“. Ein rastloses Hin- und Herstellen von fiskalpolitischen Stellschrauben wäre zu befürchten. Ein Risiko ist, dass Bürokratie entsteht und Marktchancen schwinden, wo sie eigentlich wachsen sollen. Aber Risiken sind kein Grund, Innovationen zu unterlassen.
Allein eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf einen Rückgang des Hungers kann technische und institutionelle Neuerungen legitimieren. Es geht um Leben. Und dazu gehört der Gewinn von Freiheit in Verantwortung für die Bauern und Bäuerinnen, der ein Rück-Gewinn sein kann und dann auch Innovation im ganz alten Wortsinn. „Nihil innovetur nisi quod traditum est“, lautet ein Zitat aus der frühchristlichen Zeit, das Papst Stephan I. zugeschrieben wird. „Nichts ist innovativ, was nicht an das Überlieferte anknüpft“, könnte man etwas frei übersetzen.
Die Innovatorin ist eine Entdeckerin. Entdecken kann man mit zukunftsgerichteter Fantasie, aber auch in der Vergangenheit oder im Blick des anderen.
Der Begriff der Zerstörung veranschaulicht ein ethisches Dilemma. Clapperton Chakanetsa Mavhunga sagt: „Die inspirierendsten und dringend benötigten Innovationen stammen von Menschen, die lokale Wissensformen respektieren, gründlich verstehen und darauf aufbauen.“ Alle Beispiele, die er diesen Kriterien entsprechend für eindeutig gelungen hält und die aus Afrika selbst entstanden sind, betreffen die Landwirtschaft. Sie heißen eSoko, Rural eMarket, M-Shamba, iCow und Hello Tractor. Denn selbstverständlich bedürften die Bevölkerungs- und Armutsprobleme Afrikas technischer Neuerungen und politischer Ermöglichung ihrer Entfaltung. Tradition und Gebete allein genügen nicht. Und auch anrührende Worte wie Respekt, Tradition und Fairness können Fahnenworte sein.
Literatur
- Mavhunga, Clapperton Chakanetsa (2017), Introduction: What do science, technology, and innovation mean from Africa? p.1-27.
- Moulaert, Frank, Martinelli, Flavia, et. Al (2005), Towards Alternative Model(s) of Local Innovation. Urban Studies 42, 11, p. 13-24.
- Rendtorff, Trutz (2011), Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie. Hrsg. von Reiner Anselm u. Stephan Schleissing. Tübingen.
- Weber, Susanna (2018), Innovation: Begriffsgeschichte eines modernen Fahnenworts. Marburg.