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Seit einem Jahr ist Martin Frick Direktor des WFP-Büros in Berlin - und seitdem jagt eine Hungerkrise die andere. Was sind die Antworten des Diplomaten? Ein Gespräch über Chancen in der Landwirtschaft, das Zusammenspiel multipler Krisen, die Bedeutung von Resilienz und knappere Budgets.
Es ist alles noch schlimmer gekommen als gedacht, seit Ihrer Amtsübernahme, nicht wahr?
Dr. Martin Frick: Das kann man leider so sagen. Als ich hier vor einem Jahr anfing, wollte ich eigentlich einen klaren Schwerpunkt aufs Klima setzen. Denn in dieser unsicheren Zukunft ist es jenes Thema, von dem wir traurigerweise am sichersten wissen werden, was geschehen wird. Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine. Und damit wurde über Nacht überdeutlich, was wir schon immer gesagt hatten: Das globale Ernährungssystem ist unglaublich verletzlich; das sieht man allein daran, wie die Preise global durch die Decke gehen, weil der weltweit fünftgrößte Getreideexporteur binnen Stunden vom Markt genommen wurde. Ich werde dann immer gefragt, wo die Brennpunkte seien, und natürlich gibt es sie – wie den Libanon – , aber wenn aktuell 345 Millionen Menschen akut hungern, dann reden wir von 82 Staaten der Erde.
Über den Libanon redet öffentlich gerade kaum jemand.
Genau. Und es trifft eben viele. Gerade sprach ich mit meiner Kollegin, die für Lateinamerika zuständig ist: Da treiben die gestiegenen Preise Länder in die Instabilität, von denen wir das nicht erwartet hatten. Es ist eine Mischung aus wirtschaftlicher Erschöpfung nach nun drei Jahren Corona-Pandemie, schmelzenden Währungen, starkem Dollar und extrem hohen Preisen. Die Leute sind an der Kante.
Was ist Ihre Bilanz des ersten Jahres in zwei Sätzen?
Wir haben viele Krisen, aber alles hängt miteinander zusammen und verbindet sich zu einer einzigen großen Krise. Diese systemische Herausforderung lässt sich nicht in Einzelteile zerlegen, wir müssen uns ihr als Ganzes stellen.
Wie lautet diese systemische Krise konkret?
Wir haben politische Instabilität, Krieg und Konflikte, Klimawandel, die Auswirkungen der Pandemie und ein sehr anfälliges Welternährungssystem, das wir umstellen müssen.
Gegen politische Instabilität oder gewaltvolle Konflikte ist man als Weltgemeinschaft doch machtlos…
Das war vielfach die Erfahrung, angesichts der schwierigen Konstellation im Sicherheitsrat. Aber man kann gegensteuern, wenn es darum geht, Konflikte zu verhindern.
Kampf gegen Hunger ist immer auch einer für Stabilität und Frieden.
Jene Länder, die gerade unter Druck geraten, werden ja nicht stabiler. Ruhe und Stabilität fängt mit Ernährungssicherheit an, da müssen wir ansetzen.
Inwieweit erwarten Sie aufgrund des Zusammenhangs zwischen Energiepreiskrise und Düngemittelpreisen einen Produktionseinbruch von Lebensmitteln, der die Situation noch weiter verschärft?
Das ist ein Beispiel für die systemische Krise. Wir sorgen uns kurzfristig um die Düngerpreise. Aber langfristig ist die Sicht eine andere: Kunstdünger wird aus fossiler Energie hergestellt, das ist allein aus Klimaperspektive keine Lösung auf Dauer. Wir müssen uns auf traditionelle Methoden besinnen, auf Fruchtwechsel, Humusbildung und Agroforesting – also das Mischen von Wald- und Landwirtschaft. Es braucht auch gezielte Tierhaltung, die zum Düngen beitragen kann. Nur stellt man dieses System nicht über Nacht um. Der Umstieg auf Agroökologie braucht mehrere Jahre, aber wir dürfen ihn nicht mehr aufschieben, und dies auch allein aus Sicht der Ernährungssicherung: Kunstdünger wird langfristig teurer werden, deshalb müssen wir davon wegkommen. Schließlich ist aus klimapolitischer Erwägung klar, dass wir uns eine industrielle, hochintensive Landwirtschaft auf Dauer nicht mehr leisten können.
Große Initiativen, die sich der Hungerbekämpfung angeschlossen haben, wie etwa AGRA, würden Ihnen nun widersprechen…
Auch AGRA bewegt sich. AGRA stand in den letzten Jahren sehr stark in der Kritik und hat sich jetzt etwa beim Thema Kunstdünger gewandelt. Es wird immer deutlicher, dass in Ländern des globalen Südens eine industrielle Großlandwirtschaft gar nicht möglich ist, sondern katastrophale Verluste an Böden verursacht. Daher muss auf kleinteiligere Landwirtschaft, auf die der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gesetzt werden, die hoch arbeitsintensiv und divers ist – die mit den vorhandenen Ressourcen umgehen kann, natürliches Kapital aufbauen kann.
Sie haben sich jahrelang mit der Transformation von Ernährungssystemen beschäftigt. Nun engagieren Sie sich in der Krisenintervention. Sind das zwei Gegensätze? Gibt es auch Gemeinsamkeiten im Ansatz?
Unser Slogan ist ja „Saving lives and changing lives“. Gemeinsam mit UNICEF sind wir die einzige UN-Organisation mit einem Doppelmandat, haben ein humanitäres und ein Entwicklungsmandat zur langfristigen Ernährungssicherung. Es ist nur so, dass eine Krise die andere jagt. Daher haben wir derzeit den Schwerpunkt sehr stark beim Humanitären, das liegt gerade bei 80:20. Ich habe in diesem Jahr aber immer gesagt, dass wir den Aspekt des „changing lives“ nicht vernachlässigen dürfen. Allein, weil die Schere zwischen humanitärem Bedarf und humanitärem Funding immer weiter auseinanderdriftet – trotz der massiv gestiegenen Leistungen von Ländern wie etwa Deutschland. Wir müssen also in die Umstellung der Landwirtschaft, es bleibt nichts anderes übrig.
Sollte der Entwicklungsaspekt nicht nur nicht vernachlässigt, sondern hochgetrieben werden?
„Saving lives“ hat immer Priorität. Wir können die Leute nicht verhungern lassen. Aber ich würde mich sehr freuen, wenn wir auf 50:50 kämen. Denn die öffentlichen Hilfsmittel sind immer begrenzter. Daher muss man versuchen, so viel wie möglich aus diesem Geld herauszubekommen, eben auch langfristig. Diese saubere Trennung zwischen humanitärer und Entwicklungshilfe können wir uns gar nicht mehr leisten.
Gilt das auch für die Klimafinanzierung?
Nun, Ernährungssysteme – also wie Nahrung auf unseren Teller gelangt – leisten den größten Beitrag zur globalen Erderwärmung, und sie haben auch das größte Potenzial, um CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen.
Resilienzaufbau in der Landwirtschaft ist der Imperativ der Imperative. Sonst droht uns eine perpetuierte globale Hungerkrise.
In Afrika musste das WFP die Essensrationen an Geflüchtete reduzieren. Wie kommt man davon weg?
Wir sind eine Organisation, die fast keine Kernfinanizierung hat. Im Grunde läuft alles über eine Projektfinanzierung, wir sind also darauf angewiesen, dass uns Geldgeber Summen für konkrete Aufgaben in die Hand geben. Und wenn dieses Geld nicht reicht, müssen wir den Teig dünner ausrollen, kürzen und Prioritäten setzen. Das ist bitter. Aber es zeigt auch, dass im Idealfall humanitäre Hilfe nur kurzfristig eingesetzt werden sollte. Bei den Geldgebern stellt sich nach Jahren auch eine gewisse Müdigkeit ein, immer wieder dieselbe Situation zu unterstützen; da brauchen wir diplomatische Initiativen zur Konfliktvermeidung und den langfristigen Umbau der Ernährungssysteme.
Dringen Sie weniger durch?
(Er atmet tief aus.) Es ist ganz natürlich, dass nach vielen Jahren irgendwann das Interesse der Geber zur Unterstützung weniger wird. Auch reiche Länder sind etwa durch die Pandemie stark unter Druck geraten – oder der russische Krieg, der in Deutschland Rüstungsausgaben zur Folge hat, an die auch niemand vorher gedacht hatte. Und das, wo die Solidarität in Deutschland immer mehr zunimmt, das WFP wird immer mehr von Deutschland unterstützt.
Auf der anderen Seite, wenn wir auf Europa schauen: An eigenen Krisen gibt es viele – von der Politik bis zur Wirtschaft. Da fällt einem doch naturgemäß der Blick über den Tellerrand hinaus schwerer, oder?
Gerade aus dem parlamentarischen Raum fragt man mich oft: Was können wir denn langfristig tun? Genau dorthin müssen wir mit unserer Arbeit: Neben dem Kampf gegen Klimakrise, Ernährungsunsicherheit und politische Instabilitäten ist prioritär die Stellung der Frauen zu stärken. Das alles ist zusammen zu denken, es gibt keine tragfähigen Silolösungen. Es muss von unten kommen.
Gut. Wie also kann gelingen, dass Regionen wie Subsahara ihre Ernährungssicherung erfolgreich auf eigene Beine stellen?
Wasser ist das erste Thema. Durch den Klimawandel dauern Dürren nicht nur länger an, sondern es kommen Niederschläge binnen ein, zwei Tagen mit einer Menge, die ansonsten ein ganzes Jahr fällt. Das ist verheerend, denn wegen der versiegelten Böden fließt das Wasser ab und zerstört. Das Wiederherstellen von Böden ist daher für mich eine Kernlösung. Ein Kilogramm Humus kann über 20 Kilogramm Wasser speichern…
…Wie kann man das hinkriegen?
Da gibt es einfachste Technologien. Im Sahel graben wir Vertiefungen, die das Wasser bei Regen langsamer abfließen lassen. Darin verbuddeln wir Humus und Baumsetzlinge – dann wächst etwas. Und im Schatten dieser Bäume sinkt die Temperatur, steigt Morgentau auf. Es wird kühler und feuchter. Auch wird Landwirtschaft dadurch erleichtert. So lässt sich die Regenwahrscheinlichkeit erhöhen, das ist kein Voodoo!
Manche sagen: Es gibt genügend Essen – es ist nur ungleich verteilt. Stimmt das?
Mengenmäßig stimmt es, aber die Wirklichkeit ist komplexer. Wir haben oft die Situation einer Ernährungsunsicherheit bei gleichzeitiger Produktion für den Weltmarktexport, zum Beispiel von Baumwolle. Die kann man nicht essen. Den Ländern ist viele Jahre lang gepredigt worden, sich auf wenige Produkte zur Ausfuhr zu konzentrieren, um dann auf dem Weltmarkt günstig Lebensmittel einzukaufen.
Warum hat man das getan?
Es hat eine Zeitlang funktioniert, und es diente auch unserem Selbstinteresse, mehr Güter aus dem globalen Süden spottbillig zu bekommen, wie Kakao, Bananen oder Baumwolle. Die billigen T-Shirts haben eben ihren Preis. Nun braucht es regionale Märkte und eine Produktion zur lokalen Versorgung.
Derzeit decken drei Sorten Pflanzen 60 Prozent des globalen Kalorienbedarfs ab. Diese Uniformität funktioniert nicht, weil es die Böden auslaugt, zu viel Wasser verbraucht und die Bevölkerung zu einseitig ernährt.
Das heißt, der Preis unseres günstigen Kaffees und der T-Shirts ist Hunger?
So kann man es sehen. Es wäre sicherlich verkürzt, es nur so zu sehen, aber so ist es.
Hat man das nicht gesehen? Wollte man es nicht sehen?
Es funktionierte gut. Es ist ja nicht so, dass die Ukraine das einzige Land wäre, das Weizen exportiert. Es hat dies nur enorm billig getan. Landwirtschaft sollte nicht wie im Bergbau die Ausbeutung vorhandener Ressourcen sein.
Das klingt natürlich zynisch, aber sehen Sie im Ukrainekrieg auch eine Chance für die Transformation der Ernährungssysteme?
Der Druck ist sehr stark gestiegen. Ich will nicht von Chancen sprechen, denn dafür ist die Situation zu dramatisch. Aber dieser Druck kann auch Veränderungen beschleunigen, es geht nur nicht über Nacht.
Dachten Sie zu Beginn Ihrer beruflichen Laufbahn, dass Sie so viel mit Nachhaltigkeit, Ernährung und Hungerbekämpfung zu tun haben würden?
Überhaupt nicht. Das hat sich tatsächlich ergeben. Ich war Diplomat im Auswärtigen Amt und spezialisierte mich auf Menschenrechte, habe 2007 unter der deutschen EU-Präsidentschaft den UN-Menschenrechtsrat mitverhandelt und bin da zum ersten Mal über das Thema Klimawandel gestolpert: Da brachten nämlich die Malediven eine Resolution dazu ein – und man fragte sich: Was hat denn das mit Menschenrechten zu tun? Seitdem haben wir eine Menge gelernt. Und seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen.
Haben Sie bei dieser jahrelangen Beschäftigung auch im eigenen Leben etwas verändert?
Oh ja. Ich habe ein Auto, das 23 Jahre alt ist und vier Wochen lang steht, bis es einmal bewegt wird. Meinen Fleischkonsum habe ich sehr stark reduziert – wenn, dann aus einer Produktion, die mir etwas sagt. Und Lebensmittelverschwendung versuche ich auf ein absolutes Minimum zu reduzieren und so zu kochen, dass die Überbleibsel des Vorabends wiederverwendet werden. Es macht ja auch Spaß: Man wird kreativer.